about zeit

Wir haben alle dieselbe Krankheit. Wir sind gegenwartsvergessen.

Irgendwo, zwischen Präteritum und Futur eins und zwei, führte die Gegenwart über Jahrhunderte ihr Dasein. Zugegeben, schon immer etwas eingequetscht, kurzlebiger als die unüberschaubare Zukunft und die endlose, gesprächige Vergangenheit. Aber da die Ereignisse noch nicht schneller als die Schatten waren, die sie vorauswarfen, hatte sie ihren Stammplatz. Auch wenn die Gegenwart sprachlich etwas spärlich ausgestattet war. Eine Zeitform? Da kicherten Futur eins und Plusquamperfekt. Ist ganz schön lausig im Vergleich mit uns.

Der Mensch ist zu recht stolz, natürliche Grenzen überwunden und eigene gezogen zu haben. Er kann die Weltmeere überfliegen, er hat die Gefahren der Natur gebannt, das Feuer beherrscht er (naja, mal von Waldbränden abgesehen). Er baut Buhnen und Wälle, um die Wucht des Wassers zu begrenzen. Aber die Zeit? Was haben wir mit ihr angestellt? Warum haben wir sie wie das Feuer und das Wasser behandelt? Warum hat nicht mehr jegliches seine Zeit? Warum zerhacken wir alles in den Sekundentakt? Warum brauchen wir Zeit-Management? Warum reicht nicht das Zeitgefühl? Wir haben womöglich die wichtigste Grenze überschritten, unsere eigene.

“In Gedanken” waren Menschen zu allen Zeiten, manche waren in Gedanken versunken, abgetaucht auf dem Grund ihrer eigenen Phantasie. Manche tauchten nie wieder auf. Ab und an waren Menschen nicht dort, wo sie sich aufhielten, wo ihr Körper war. Es tut manchmal gut, sich hinfortzudenken, aus einer Situation heraus, zu einem anderen Menschen. Oder an einen anderen Ort. Es kann befreiend sein.


Das erste Mal Verse von Rilke zu lesen laesst einen sofort in dessen Gedankenwelt versinken. Das unwillkürliche Gefühl von Verwandlung oder Versetzung setzt ein. Es verwandelt sich die Wirklichkeit um einen herum, der Ort an dem man sich befindet wird aus Grau Grün und Blau. Rilke sorgt für Versetzung, indem man sich auf seinen Versen hinfortdenkt. Langsam. Ganz langsam lernt man die Sehnsucht kennen, die einen wie eine Sänfte traegt. In diesen Momenten wird Zeit ein wertvolles Gut, aber ohne Geld, hat keinen Preis. Literatur ist Verlangsamung, daher der Genuss. Lesen “hält einen auf”, Gott sei Dank. Lesen ist eine Übung in Transformation ohne Verlust der Gegenwart. Wer liest, der nimmt nicht nur mechanisch Buchstaben auf, sonst würden alle Menschen jeden Text genauso deuten. Lesen fusioniert das Nichterlebte mit dem Erlebten, es stärkt die Gegenwart. Literatur beschert so Gegenwartsgewinn. Sie sorgt für Veränderung, aber ist keine gewaltsame, keine brutale Entführung aus dem Jetzt.

Es gibt Parallelen zwischen Lesen und Glauben, es sind ähnliche Kulturtechniken. Der Glaube kann Berge versetzen oder zumindest den Gläubigen. Wer das Vaterunser spricht, dem kann Ähnliches widerfahren wie dem Rilke-Leser: die Übertragung der fernen oder fern angenommenen, erhofften Kraft in die Gegenwart. Wenn wir uns Zeit lassen. Auf das Glück hoffen und es nicht planen.

Aber das Handy? Der Server? Das Netz? Eine virtuelle, von uns selbst geschaffene Macht gibt inzwischen das Tempo vor. Wir passen uns an. Sie katapultiert uns aus der Gegenwart, sie hat die innere Uhr ersetzt. Die Gegenwart stirbt im Takt des Tastendrucks. Der Verlust der Gegenwart ist eine neue Krankheit. Unsere Art Kommunikation dient nicht mehr der Kommunikation, sie verhindert sie. Die Schlagzahl der Schlagzeilen übersteigt unser Fassungsvermögen. Meine Wette: Wer noch am Abend aus dem Gedächtnis alle Personen nennen kann, die er angesimst oder angemailt hat, erhaelt ein Mobiltelefon…

Verkabelt wie auf der Intensivstation, verliert der Mensch jede Beziehung zu Raum und Zeit. Wir haben unsere Hirne von unseren Herzen entkoppelt. Lieber nirgendwo richtig als ganz am falschen Ort…

Welche Kraft treibt uns? Welchen Reiz hat die Reizüberflutung? Ein Gemisch aus Angst und Hoffnung scheint uns erfasst zu haben, ein Mix aus dem Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten und aus der Panik, immer etwas zu verpassen. Das Netz nährt die Hoffnung, dass von uns etwas hängenbleibt, wenn wir nicht mehr sind. Aber das Netz macht uns gleichzeitig klein, zum Mini-Bit im Mega-Universum.

Jegliches hat seine Zeit? Wer schreitet noch fürbass? Wer mag noch trödeln, wo Zeit doch so wertvoll ist? Wir sind lieber nirgendwo richtig als ganz und gar am falschen Ort. Wir geben uns nicht zufrieden mit Gedankenschritten, wir setzen hastig an zu Gedankensprüngen und landen in der Leere. Wir sind Nomaden des Kopfes und haben unsere Hirne von unseren Herzen und von unseren Füßen entkoppelt.

Wo bleibt die Zeit für Liebe in der Nomadenwelt? Wer kämpft um die Gegenwart? Wo bleibt die Gegenwehr? Wer wagt sich raus aus dem Teilchenbeschleuniger, der unsere Hirne zerreißt? Wer hört noch zu mit dem ganzen Ohr? Warum gehört Überwindung dazu, sich auszuklinken aus dem Netz der Sprachverwirrung? Wer zerstört das neue Babylon? Woher kommt die Illusion, mehr zu erleben, wenn man die Anzahl der Erlebnisse erhöht? Es ist schwer, den Fortschritt aufzuhalten, der keiner mehr ist.


In einem Dorf lebt eine alte Frau. Sie war geboren in dem Dorf am Fluss, sie kannte nur wenige Orte der Gegend. Sie hat nie in einem Flugzeug gesessen. Sie hat es nicht einmal bis Berlin geschafft. Der Fluss hat ihr viele Geschichten erzählt, er hat sie einfach angespült. Tote Fische, tote Menschen, das Lachen aus dem Nachbardorf. Sie kannte jede Furche im Baum, abgetastet in langen Nächten. Der Fluss hat ihr alles gebracht, die Liebe, die von Gegenüber geschwommen kam, der Krieg, der mit Tosen übersetzte. Sie kannte die Sterne und Geschichten von der Sehnsuchtsee. Sie hat das Leben genommen, wie es zu ihr kam, nicht umgekehrt. Man hat ihr von Rom erzählt, von Venedig, von Amerika.

Sie hat staunend zugehört, aber nie geklagt, etwas verpasst zu haben…

PS: Von Wilhelm Busch ist bekannt, dass er ein Freund der Gartenarbeit war. In einem Brief an Johanna Kessler schrieb er am 30. Juli 1896: »Auch ich war immer daheim, grub, krautete, stocherte, handhabte die Gießkanne, besah alles, was wuchs, tagtäglich genau und bin daher mit jeder Rose, mit jedem Kohlkopf, mit jeder Gurke intim bekannt. Eine etwas beschränkte Welt, so scheint’s. Und doch, wenn man’s recht erwägt, ist all das Zeugs, von dem jedes unendlich und unergründlich ist, nicht weniger bemerkenswert als Alpen und Meer, als Japan und China.«

Inspiriert, geschrieben und gesammelt im Leben, im Web und im Spiegel

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